Antidiskiminierung und Antirassismus in Zeiten von Corona
Fokusgruppe: Migrant_innen erster Generation, migrantische Eltern und Familien

Dossier NARUD e.V. – 20. April 2020

Als migrantisch-diasporischer Verein ist NARUD e.V. seit 2005 tätig. In diversen auf Berlin bezogenen Projekten arbeiten wir auch im Bereich Globales Lernen, Antidiskriminierung und Antirassismus. Aufgrund der nun schon wochenlangen Corona-Pandemie sind Kindertagesstätten und Schulen, aber auch die Räumlichkeiten von Jugendfreizeiteinrichtungen, Jugend-, Familien- und Frauenberatungsstellen und Spielplätze in Berlin geschlossen. Ähnlich wie viele Kolleg_innen, die als Bildungsakteur_innen tätig sind, können wir viele unserer Bildungs- und Beratungsangebote aktuell nur online zur Verfügung stellen. Der persönliche vor Ort Kontakt zu unseren Ziel- und Fokusgruppen ist aktuell nicht umsetzbar.

In diesem Rahmen haben wir uns mit Kolleg_innen aus migrantischen und antirassistischen Vereinen ausgetauscht, sowie Menschen aus unseren Fokusgruppen befragt. Heute stellen wir Ihnen einige zusammengestellte Perspektiven zur Verfügung, die eine Einordnung der Auswirkungen der COVID 19-Pandemie auf migrantische Eltern, Familien und ihre Kinder in Deutschland darstellen.

Dass nicht-weiße Menschen und solche die als “Migrant_innen” markiert oder wahrgenommen werden, in Deutschland strukturellen, institutionellen und alltäglichen Rassismus erleben ist eine Tatsache die vielfach wissenschaftlich belegt ist (siehe dazu z.B. Steyerl und Gutiérrez Rodriguéz 2003, Ha, al Samarai und Mysorekar 2007, Sow 2009, Castro Varela und Mecheril 2016 oder Terkessidis 2019). Nicht-weiße Menschen  in den USA sind zum Beispiel überdurchschnittlich in den Infektions- und Todesopferzahlen des Corona-Virus repräsentiert (siehe hierzu auf Englisch: Democracy Now und Last Week Tonight). Dies hängt damit zusammen, dass Menschen mit Rassismuserfahrung überdurchschnittlich oft in prekären Lebensverhältnissen leben, als Menschen ohne Rassismuserfahrung – in der Wissenschaft wird dies auch als intersektionaler Zusammenhang von den Kategorien Klasse und dem Konstrukt ‘Rasse’ verortet. 

Dass Migrant_innen und nicht-weiße Menschen auch in Deutschland aktuell überdurchschnittlich von der Corona-Krise – durch Infektion, sowie materiell – betroffen sind, wird medial kaum diskutiert (Ausnahmen stellen dar: Kilani 21. März 2020, Nassimi und Roldán Mendívil 5. April 2020 und 8. April 2020).

Neben Angst und Sorge um die Gesundheit der eigenen Familie, die alle betreffen, trifft vor allem Migrant_innen die durch die Pandemie ausgelöste finanzielle Krise besonders schwer. Denn Migrant_innen sind in Deutschland überdurchschnittlich in schlechter bezahlten Tätigkeiten beschäftigt und erhalten auch im Durchschnitt bei gleicher Qualifikation bis zu 44% weniger Gehalt als ihre nicht migrantischen Kolleg_innen (Leubecher 6.3.2019). Außerdem sind ausländische Staatsbürger_innen und Staatenlose überdurchschnittlich in “systemrelevanten” Berufen tätig: in der Gebäudereinigung sind 31,9 Prozent,  in der Lebensmittelherstellung und -verarbeitung 31,7 Prozent und in der Tier- und Landwirtschaft 31,1 Prozent beschäftigt.

“Zum anderen spielt aber auch die soziale Lage vieler Menschen mit Migrationshintergrund eine Rolle. Bei ihnen ist die Gefahr, in Armut zu leben, doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Migrationshintergrund. Die Gefahr steigt für diejenigen, die zur Corona-Risikogruppe der über 64-Jährigen gehören. In dieser Altersgruppe sind Menschen mit Migrationshintergrund zu 31,4 Prozent von Armut betroffen. Bei den nicht-migrantischen Deutschen sind es im Vergleich dazu 11,5 Prozent. 2016 hatten mehr als ein Drittel der erfassten Wohnungslosen einen Migrationshintergrund. Fast die Hälfte der Arbeitslosen hat einen Migrationshintergrund und weil sie überdurchschnittlich oft selbstständig sind, hat die Corona-Krise viele migrantische Menschen quasi über Nacht erwerbslos gemacht.” (Kilani 21.3.2020).

In sogenannten “Brennpunktbezirken”, zu denen auch Berlin-Wedding gehört, dem Kiez in dem NARUD e.V. selber sitzt und viele Projekte anbietet (Mitte im Dialog, Promotor_innenstelle Diskriminierungsfreie Bildung im Wedding), mehren sich solche Probleme nochmals. Für hier lebende Migrant_innen als auch für nicht-migrantische Prekarisierte, die seit der Verschärfung der Corona-Krise ohne Lohn und Geldreserven dastehen, ist zu Hause bleiben keine Option.

Außerdem haben unabhängige Register- und Beratungsstellen deutschlandweit einen Anstieg an anti-asiatischem Rassismus seit Februar vermerkt. Vor allem in den ersten Wochen der damals noch als Epidemie eingestuften COVID-19-Krise, sind vermehrt ostasiatisch aussehende Menschen in Deutschland, in den USA, in Frankreich, in Australien und anderen Ländern verbal und physisch angegriffen worden. Die von NARUD e.V. getragene Registerstelle dokumentierte fünf Fälle alleine in Berlin-Mitte im Februar 2020. Zum Beispiel wurde ein chinesischer Patient nicht in eine hausärtzliche Praxis hinein gelassen mit dem Argument, er könnte mit dem Corona-Virus infiziert sein. Ein erster Vorfall ereignete sich schon am 31. Januar, als eine chinesische Studentin in Berlin-Gesundbrunnen von zwei ihr unbekanntem weißen deutschen Frauen unvermittelt angegriffen und zusammengeschlagen worden war.

Auch Rassismus gegen andere nicht-weiße Menschen nimmt in Deutschland aktuell unter Bedingungen von flächendeckenden Ausgangsbeschränkungen und psychischer Belastung, zu. Als Registerstelle haben wir zum Beispiel auch einen Vorfall von anti-Schwarzem Rassismus registriert, bei dem im März in Berlin ein weißer Mann mit Mundschutz und Handschuhen in einem Bus mit Wucht einen Schwarzen Mann gegen die Scheibe schubste und mit den Worten anschrie ,,wegen euch Scheiss Ausländern ist die Seuche ins Land gekommen”. Dies sein leider keine Einzelfälle.

Migrantische und nicht-weiße Menschen in Deutschland sind auch in Zeiten ohne Corona alltäglich ‘racial stress’, also Stress, der durch rassistische Unterdrückungs- und Diskriminieurngserfahrungen ausgelöst wird, ausgesetzt (Ogette 2019, S. 64-65). Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass ein konstantes – bewusstes oder unbewusstes – Alarmiertheits- und Vorsichtsgefühl vor allem bei Schwarzen und Braunen Menschen in weißen Mehrheitsgesellschaften nachzuweisen ist:

“Der unberechenbare Charakter von racial stress kann bei den Betroffenen […] zu dem Gefühl führen, bald verrückt zu werden. Studien belegen, dass die Auswirkungen von Mikroaggressionen im Alltag zu den gleichen Symptomen führen können, die auch von posttraumatischen Belastungsstörungen hervorgerufen werden” (Ogette 2019, S. 65).

Dieser ‘racial stress’ nimmt für bestimmte Teile der migrantischen Gemeinschaften in Deutschland seit Wochen zu und besorgt gerade Migrant_innen sehr, die sich nicht nur um das Wohlergehen ihrer Familien in Deutschland sorgen sondern konstant auch mit Familienangehörigen außerhalb Deutschlands in Verbindung stehen, die in Ländern leben, die bei weitem nicht so ein stabiles und zugängliches Gesundheitssystem wie in Deutschland aufweisen können und somit jetzt schon vor medizinischen, sozialen und politischen Herausforderungen stehen, die weit verheerender als die Lage in Deutschland sind.

Die Mehrbelastung von migrantischen Eltern ist finanziell und auch psychisch. Zusätzlich zu den oben aufgeführten Bedingungen, müssen viele migrantische Eltern zusätzlich mit der Situation des Schulunterrichts zu Hause umgehen. Viele Eltern der ersten Migrationsgeneration schämen sich ihre Kinder nicht mit perfektem Deutsch bei allen Schulaufgaben, mit entsprechendem Fachwissen, beiseite stehen oder, wenig Zeit für die Betreuung der Schulaufgaben aufbringen zu können. Einkommensschwache Familien, unter denen Migrant_innen erster und auch zweiter Generation in Deutschland überdurchschnittlich vertreten sind, haben dazu strukturelle Einschränkungen wie:

  • kein (schnelles) Wlan / Internet zu hause
  • kein Laptop oder Smartphone für Schulaufgaben
  • keinen eigenen und / oder ruhigen Arbeitsplatz.

Hinzu kommt, dass auch schon vor der Corona-Pandemie für “[…] rassifizierte Jugendliche […] die Nutzung von adoleszenten Möglichkeitsräumen an Schulen weiter eingeschränkt [ist]. Denn die Schule ist mehrheitlich eine Mittelschichtsinstitution, „die Wertorientierungen, Umgangsformen und Arbeitshaltungen belohnt, die vor allem in Familien der Mittelschicht vermittelt und angeeignet werden“ (Bracke/Büchner 2012, 109). So weisen Studien darauf hin, dass Schüler*innen mit einem Migrationshintergrund häufiger die Klasse wiederholen, häufiger Empfehlungen für die Sonderschule erhalten und bei den Übergangsempfehlungen in die Sekundarstufe seltener Empfehlungen für das Gymnasium bekommen, obwohl die schulischen Leistungen für eine Gymnasialempfehlung ausgereicht hätten. Nicht die Noten, sondern der Bildungshintergrund der Eltern, die (angenommene) fehlende Unterstützung durch sie oder die (angenommene) ungünstige Lernumgebung werden als Entscheidungsgrundlage herangezogen (Bracke/Büchner, 114 f.)” (Korucu 4.3.2020).

Die aktuell erzwungene Homeschooling Situation schließt viele Kinder und Jugendliche aus migrantischen Familien, aufgrund klassenspezifischer Merkmale, und aufgrund der häuslichen Situation, von Faktoren wie verstärkter Rassismuserfahrung,  ‘racial stress’ und, dass migrantische Eltern oft nicht im gleichen Maße ihre Kinder bei den Schulaufgaben auf Deutsch betreuen können, strukturell aus. Viele Kinder und Jugendliche mit Migrations- und Rassismuserfahrung werden im Zuge der wochenlangen Schulschließungen mit hoher Wahrscheinlichkeit versetzungsgefährdet sein (ADAS 2020).

Als NARUD e.V. setzen wir uns für Inklusion, Zusammenhalt und Solidarität in einer vielfältigen Einwanderungsgesellschaft ein. In Projekten wie Globales Lernen, Starke Netzwerke für Empowerment und Teilhabe, Promotor*innenstelle Diskriminierungsfreie Bildung im Wedding und Stärkung Afrikanischer Eltern arbeiten wir antirassistisch und mit einem antikolonialem Ansatz, der migrantische Erfahrungen und Wissen aus dem Globalen Süden ins Zentrum rückt. Die hier skizzierten aktuellen Problemstellungen fließen in unsere Vereinsarbeit genauso ein, wie in unserer Kommunikation mit Kooperationspartner_innen, Politik, Wissenschaft und Medien.

Um vor allem migrantische Eltern und Lehrer_innen migrantischer und / oder nicht-weiße Schüler_innen zu unterstützen, haben wir auch ein Handbuch zum Thema Corona, Antidiskriminierung und Antirassismus veröffentlicht.

Für Anfragen aus Politik, Wissenschaft und Medien stehen wir Ihnen gerne unter info@narud.org zur Verfügung.

 

Empfehlungen:

Literatur:

Castro Varela, María do Mar und Paul Mecheril (Hg.). 2016. Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik und Gegenwart. Transcript – Bielefeld.

Ha, Kien Nghi, Nicola Lauré al Samarai und Sheila Mysorekar (Hg.). 2007. re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Unrast Verlag – Münster.

Ogette, Tupoka. 2019. exit racism. rassismuskritisch denken lernen. 4. Auflage. Unrast Verlag – Münster.

Steyerl, Hito und Encarnación Gutiérrez Rodriguéz (Hg.). 2003. Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Unrast Verlag – Münster.

Sow, Noah. 2009. Deutschland schwarz weiß. Der alltägliche Rassismus. Wilhelm Goldmann Verlag – München.

Terkessidis, Mark. 2019. Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute. Hoffmann und Campe – Hamburg.

Artikel:

Korucu, Canan. 4. März 2020. Lebensrealitäten von muslimischen Jugendlichen – Zwischen Fremdzuschreibungen, Rassismuserfahrungen und (kritischen) Selbstpositionierungen, ufuq online.

Leubecher, Marcel. 6. März 2019. Gehaltskluft zwischen Deutschen und Ausländern in allen Branchen, Welt online.

Kilani, Ramsis. 21. März 2020. Corona und Migration: Nicht alle können einfach zuhause bleiben!, Marx21 online.

Nassimi, Narges und Eleonora Roldán Mendívil. 5. April 2020. Systemrelevanz ist weiblich. Insbesondere Migrantinnen verlieren durch die Coronakrise ihre oft prekären Jobs, Neues Deutschland.

8. April 2020. Das wenig demokratische Virus. Die Corona-Pandemie, Migration und die Geschlechterfrage, Lower Class Magazine.

Podcasts:

Rosa-Luxemburg-Stiftung. 2020. Rassismus und Corona, Podcast.